Komplexe Flüssigkeiten und weiche Materie

Emulsionen, Lösungen, Gele und Kolloide findet man in einer wachsenden Zahl von alltäglichen Anwendungen, wie z.B. Shampoos, Farben, Schmiermittel oder Kraftstoffen, wo sie für spezielle Funktionen integriert sind und bemerkenswerte Eigenschaften besitzen.
Die Neutronenstreuung wird hier gebraucht, um derart komplexe Mikrostrukturen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen zu verstehen, was ein wichtiger Schritt zur Entwicklung neuer Produkte ist. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Größenbereich von 1 bis 100 nm zu.
Eine Anwendung ist die Verbesserung der Fließeigenschaften von Dieselkraftstoff. Bei tiefen Temperaturen können im Diesel Wachskristalle entstehen, die die Kraftstofffilter verstopfen und somit einen Motorstopp verursachen. Mit Hilfe von Ergebnissen der Neutronenstreuung wurden Blockcopolymere entwickelt, die als Zusatz die Kristallgröße im Diesel verringern (Bild 1, rechte Hälfte) und so den Einsatz von Autos im Tieftemperaturbereich zu ermöglichen. Mit ähnlichen Zusätzen lassen sich auch die Fließeigenschaften beim Öl- oder Löschmittelpumpen verbessern, sobald man diese Materialien besser versteht.

Bild 1

Ein anderes Beispiel: Shampoo aus einem Pumpspender muss zum einem dick genug sein, um in der Hand zu bleiben, zum anderen muss es dünn genug sein, um es einfach aus dem Spender zu pumpen und durch das Haar zu streichen. Farbe dagegen muss dick genug sein, um am Pinsel haften zu bleiben, aber sie muss gleichzeitig auch dünn genug sein, um sie glatt auf eine Wand zu streichen. Diese Eigenschaft wird "shear thinning" genannt: man übt eine in eine Richtung gerichtete Kraft aus, um aus dick dünn zu machen. Bei diesem Prozess verändert sich die molekulare Struktur der komplexen Flüssigkeit: wenn diese Materialen dick und zäh sind, sind deren Moleküle noch ungeordnet, sobald aber eine gerichtete Kraft auf sie wirkt, richten sich die Moleküle aus, so dass das Material dünn und elastisch wird und frei fließen kann. 

Eine andere wichtige Eigenschaft von komplexen Flüssigkeiten ist die Viskoelastizität; das ist die Neigung der Materie, wie eine Feder zurückzuspringen, wenn eine Kraft auf sie wirkt. Auch diese Eigenschaft lässt sich an Strukturmerkmalen der Stoffe auf molekularer Ebene festmachen. Neu entwickelte Ölsorten mit viskoelastischen Zusätzen haften deshalb wesentlich besser an sich bewegenden Metallteilen wie Achsen- oder Kugellagern. Alte Ölsorten zerfließen dagegen bei hoher Beanspruchung durch Hitze und Reibung und schmieren deshalb nicht mehr. Als weitere Anwendungen seien hier noch die Entwicklung von Zusätzen zur Veränderung der Mischbarkeit von Stoffen, verbesserte Kleber und Beschichtungen genannt. 

Mechanische Spannungen

Die Spannungsverhältnisse in einem Material sind ein wichtiger Faktor, der die Qualität und die Zuverlässigkeit von mechanischen Komponenten bestimmt. Mit Hilfe der Neutronenstreuung lässt sich die räumliche Verteilung dieser Spannungen an internen Schnittstellen nahe der Oberfläche oder mehrere Zentimeter tief im Innern von Bauteilen mit hoher Auflösung (1mm) ermitteln. 
Ein konkretes Beispiel ist die Kartographierung eines Spannungsfeldes im tiefgewalzten Bereich einer Autokurbelwelle (Bild 2). Tiefwalzen ist ein Prozess, der die Schnittstelle zwischen der tragenden Oberfläche und den seitlichen Flächen stärkt und somit die Steifheit als Schutz gegen Schwingungen, die die Kurbelwelle verbiegen können, um bis zu 200% erhöhen kann.

Bild 2

Dabei ist keine spezielle Behandlung der geprüften Teile für die Messung notwendig, d.h. eine Probe kann direkt aus der Produktion oder nach starker Beanspruchung gezogen werden, weil dieses Messverfahren die Proben nicht verändert. Aus dem Vergleich von Messreihen an alten und neuen Kurbelwellen können Schlüsse hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Sicherheit der kritischen Komponenten gezogen werden. 
Diese Technik lässt sich auf Legierungen, Metalle, zusammengesetzte Stoffe und auf Schweiß-, Löt- und Härtungsprozesse anwenden.